Verkehrspolitik in Berlin ist ein spannendes Thema. Nicht nur die tägliche Erfahrung des geschickten Mixes sinnloser Spontanbaustellen, die auch sämtliche Schleichwege, die labyrinthisch um chronische Dauerbaustellen führen, zuverlässig verstopfen, ringt einem immer wieder Staunen über die planerischen Geschicke der Verantwortlichen ab. Stets dafür zu sorgen, dass Verspätungen pünktlich und unvermeidbar sind – sämtliche lokalen Strassenbauunternehmen fleissig mit Dauerparkplätzen für Baufahrzeuge und –Material zu versorgen und wichtige Durchgangsstrassen regelmässig umzugraben wie sonst nur Äcker – das gibt es so nur in Berlin.
Aber ein ganz besonderes Forschungsinteresse muss einem historischen Relikt gelten, dass einen ganz eigenen Bestand hat: Es geht um die Berliner Mauer und ihre Ablösung durch Verkehrspolitik. Die Verkehrsplanung, in Strassenbau und Logik der Ampelschaltungen abzulesen, zeichnet nämlich ein recht genaues Geisterbild der historischen Teilung nach. Schon ein einfaches, nahezu naturwissenschaftliches Experiment kann dies belegen. Man stelle sich irgendwo im Berliner Osten in Ost-West Richtung (damit ist die politische Richtung in den Berliner Westen gemeint) in der Nähe der ehemaligen Berliner Mauer auf, bewaffnet mit einer Uhr, die allerdings, sonst wäre das nicht naturwissenschaftlich, sondern nur historisch, einen Sekundenzeiger haben muss. Jetzt einmal messen in Ost-West Richtung und dann einmal messen in der unpolitischen Richtung längs der Mauer. Man wird zuverlässig feststellen, dass die Ampelwartezeiten in Ost-West-Richtung immer länger sind als in der Längs-Richtung entlang des Mauerverlaufs. Wer also vom Osten in den Westen will, untersteht einer virtuellen Bremsung, Stauung, Kontrolle, ganz wie in alten Zeiten.
Die alten Grenzübergänge sind nach wie vor vorhanden, umgesetzt in Schaltlogik und Ampelmännchen. Umgekehrt, in West-Ost Richtung ist das weniger bemerkbar, die virtuelle Grenzkontrolle im Westen ist einfach laxer. Nun könnte man vermuten, dass vielleicht weniger Grenzverkehr als Längsverkehr herrscht und eine entsprechende Ampelschaltung vernünftig ist, aber Fehlanzeige. Die Beobachtung zeigt Grünphasen ohne Ende, wenn schon längst kein am Grenzstreifen patrouillierendes Auto mehr in Sicht ist, dafür steht der Grenzverkehr im Dauerstau. Es ist einfach offensichtlich, dass Autofahrer, die in den Westen wollen, an der Ausreise behindert werden. Dass dies auch 17 Jahre nach der Wiedervereinigung noch so ist, verdient festgehalten zu werden. Mehrere symbolische und historische Orte fallen mir hier ein, wo man das Phänomen sehr gut beobachten kann.
Nummer 1 ist natürlich das Brandenburger Tor selbst, eine Art Sackgasse der Ost-West Achse, das wahre Ende der Einheit, das man verkehrstechnisch nur durch eine Art Blinddarm und Wurmfortsatz überwinden und umschlängeln kann. Man hätte das Brandenburger Tor dem Fortschritt, der Freiheit und der politischen Einheit opfern können und es mit Autoabgasen veredeln können als eine Art Champs Elysees der deutschen Hauptstadt, einen grandiosen Verkehrsvektor von Ost nach West wie vormals in unrühmlichen Zeiten. Man hat stattdessen eine Art politisch totgestellte Fußgängerzone geschaffen, in der sich Besucher aus Provinz und Ausland Anstandsblasen laufen dürfen. Auch der symbolische Ort No. 2, der Potsdamer Platz erscheint aus der fröhlich gestauten Verkehrsperspektive aus der Leipziger Strasse in Richtung Westen wie ein überdimensionaler Grenzübergang rechts und links mit künstlich verengten Strassenzügen, eine bewusste Engführung der Verkehrsströme ins westliche Schöneberg hinein. Dass der neue Tunnel unter dem Potsdamer Platz nicht wirklich in Ost-West Richtung verläuft, sondern irgendwie verquer, spricht für sich. Daher ist es hier auch immer schön leer, weil man den eigentlichen Stau darin gar nicht umfahren kann. Den kann man sich bereits auf der Invalidenstrasse, Ecke Chausseestr. abholen, wo geschickt kaskadierte Mehrfachschaltungen dafür sorgen, dass pro Ampelphase nur 2-3 motorisierte Grenzgänger in den Westen durchgelassen werden.
Etwas weiter im Ostberliner Hinterland, aber auch an zentralen Verkehrsvektoren, liegt der Strausberger Platz. Hier, wo Stalins Prachtbauten den Weg nach Moskau zeigen, legt man schon aus historischen Gründen besonderen Wert auf den gepflegten Grenzstau. Jeden Morgen fahre ich hier vom Prenzlauer Berg Richtung Kreuzberg und gerne hat sich hier schon ein mehrere hundert Meter langer Stau für alle, die in den Westen wollen, d.h. weiter Richtung Spree, gebildet. Eines Morgens wunderte ich mich sehr: Der Stau war verschwunden! War ich zu spät dran? Oder war schon Samstag und ich hatte es gar nicht bemerkt? Nein, die Lösung war ganz einfach: Die Ampel war ausgefallen. Ich fuhr an den Kreisverkehr heran und schaute nach links – kein Auto zu sehen auf der Ex-Stalinallee. Ich fuhr vorsichtig um den Kreisel und reihte mich ein Richtung Spree. Unbemerkt konnte ich über die Spreebrücke in den Westen fahren. Ein schönes und unheimliches Erlebnis, eine stille Revolution – die aber nur einen Tag währte. Schon am nächsten Morgen war wieder alles beim Alten – wozu lebt man schliesslich in Berlin und was wäre Berlin ohne die Mauer?
Vielen Dank für den Artikel,. Schön, dass sie die Berliner Verkehrspolitik noch mit Humor nehmen können. Mit den sinnlosen Spontanbaustellen kann ich Ihnen nur zustimmen. Ich frage mich, ob diese Stadt irgendwann anfängt, gute Verkehrsplanung zu machen.